Mittwoch, 21. Dezember 2011

Schlussworte einer Borderline-Praktikantin

Liebe Alle,

Es ist tatsächlich soweit: Ich werde heute den Verlag und damit auch seinen spitzentollen Vertrieb verlassen. Und da ich kein Mensch für große Reden bin - weil ich ja sonst doch nur wieder etwas Unangebrachtes sagen werde, für das sich mindestens 50 Prozent der Anwesenden unglaublich schämen werden - habe ich euch lieber etwas zum Abschied geschrieben.


Ich muss sagen, dass ich auf sechs Monate zurückblicke, in denen ich in einem ewigen Kreislauf sämtliche Gefühlsspektren durchlaufen bin und mich eigentlich auch als Borderline-Patientin hätte einweisen lassen können. Von absoluter Volleuphorie ("Sehet her und lernet, ihr Unwissenden! Ich habe diesen Teaser eingebaut und es wurde Licht, weil er so gut aussah!") bis zu desaströsen Totalausrastern ("Neeeeeeeiiiiiiiiiiiiin! Das System zeigt den Teaser nicht aaaaaaaaaaaaaaaaaaan! Und deswegen hau ich diesen Bildschirm jetzt mal um! Und dich gleich mit, wenn du mich weiter so blöd anglotzt!) war alles dabei. 


Dazu muss man sagen, dass der Vertrieb mir auch immer wieder gerne Steine mit den Ausmaßen einer ausgewachsenen Gebirgskette in den Weg gelegt hat. Sei es der sich ständig aufhängende Rechner, die Toplage meines Schreibtischs mit Panoramaussicht auf die Mitarbeitertoilette, Schrank und Wand oder die Putzfrau, die ständig meinen heißgeliebten Beatsteaks-Konzertbecher mit sentimentalem Sammlerwert weggeschmissen hat. 


Aber ich habe es dem Vertrieb ja auch nicht immer leicht gemacht. Ständig habe ich irgendwelche Dateien in sowieso schon undurchsichtigen Systemen versteckt, den Shop-Server in die Knie gezwungen und/oder bin allen mit meinem übernervigen David Hasselhoff-Tourette gehörig auf die Nüsse gegangen (irgendein unverhofftes "I've been looking for Freedom" kam ja doch immer irgendwie aus meiner Ecke) .


Doch die meiste Zeit haben der Vertrieb und ich uns wirklich, wirklich gut verstanden. Schließlich weiß ich erst durch den Vertrieb, wie es in der Google-Zentrale aussieht, wie man durch eine kleine Prozessveränderung zum Highlight der Leute im Lager und RSM wird und wie gut das Leben ist, wenn man mit 15 Textmarkern ausgestattet ist. Allerdings wird mir der Vertrieb wahrscheinlich nicht sonderlich fehlen - Blender-Ausflüge, Prozessveränderungen und eine über-großzügige Büroausstattung wird es auch in anderen Unternehmen heben. Was mir allerdings echt fehlen wird, sind die zauberhaften Leute, mit denen ich zusammen gearbeitet habe und die in ihrer Zauberhaftigkeit einfach unverwechselbar sind und deren Großteil ich wahrscheinlich echt vermissen werde (Die übrigen drei Prozent sollen sich übrigens bitte echt gehackt legen ;) ).


Ich werde werde es vermissen, dass meine zauberhaften Kollegen mit mir zusammen unendlich viele Youtube-Videos schauen (hier der Favorit von Digitaler Vermarktung). Ich werde es vermissen, dass die Praktikantin aus der Verlagsprojektleitung mich am Telefon auslacht und sich minutenlang nicht mehr einkriegt, weil ich aus Versehen um ein Haar ein SM-Café für meine Abschiedsfeier gebucht hätte. Ich werde es vermissen, dass mein Kollege die die Boyband-Faust rausholt ("Ich geh da jetzt mal hin und zeig' denen, wie aus so ner Hand ne Faust wird, Junge!" - "Träum weiter. Alles, was du kannst, ist die Boybandfaust").


Ich werde es vermissen, dass Mai-Mäh, das ätzend schlimm singende und im Kreis galoppierende Plastikschaf -  das mich und meine Kollegin entzückt und meine anderen Kollegen in den Wahnsinn treibt - meinen Tag besser macht. Ich es vermissen, dass meine Kollegin unverhofft aufspringt und einen Freudentanz aufführt, bloß weil sie einen Teaser eingebaut hat, der auf Anhieb gut aussieht.  Ich werde es vermissen, dass der Chef meines Chefs am Freitagabend an meinen Schreibstisch kommt, wenn ich um halb acht immer noch da bin und einfach nur lässig "Man, Samira - manchmal ist dein Praktikum echt ganz schön scheiße" sagt. 


Ich werde es vermissen, dass die Leute an meinen Schreibtisch geschlichen kommen und so tun, als würden sie sich mit mir unterhalten wollen - aber in Wirklichkeit nur abchecken, ob da was in dem neben mir stehenden gemeinschaftlichen Naschi-Eimer ist. Ich werde es vermissen, dass mich jemand mit meinem Schreibtischstuhl von einem Büro zum anderen schiebt, bloß weil ich zu faul bin aufzustehen. Ich werde es vermissen, dass die Abende mit den Digis und der IT so richtig aus dem Ruder laufen und ich so große Lachflashs habe, dass es mir physische Schmerzen bereitet.



Ich werde es vermissen, dass mir jemand eine Highfive dafür gibt, dass ich todesmutig ans Telefon gegangen bin, an dessen Ende ein wutschnaubender Kunde wartet. Ich werde es vermissen, dass mich niemand mehr anruft, der mit dem Internet auf Kriegsfuß steht und dringend meine geballte Kompetenz benötigt. Ich werde es vermissen, dass mein Kollege sich leidenschaftlich gerne unverständlich und ein wenig wirr in Serienzitaten ausdrückt, die alle anderen nicht verstehen.


Ich werde es vermissen, dass jemand mir jemandem mit Voll-Karacho einen Stift in den Nacken schmeißt, weil ich mal wieder schreiend laute Musik auf den Ohren habe, damit ich demjenigen Aufmerksamkeit schenke. Ich werde es vermissen, dass es niemanden mehr wundert, wenn ich mit einem Karton auf dem Kopf vor meinem Computer sitze und meine Arbeit verrichte. Ich werde es vermissen, dass ich einen Bestellexport ziehen will und das System einfach "Nö, keinen Bock!" sagt. 



Ich werde es vermissen, dass Florian David Fitz mich und meine Kollegin als Motivationsstütze liebevoll und zugleich sexy von der Wand auf uns herabschaut. Ich werde es vermissen, dass niemand mich aufhält, wenn ich mal wieder fragwürdige Dekorationsideen für unser Büro habe und diese auch umgehend umsetze. Ich werde es vermissen, dass ich denke, ich sei der König der Welt, bloß weil der von mir eingebaute Teaser nach stundenlanger Arbeit einigermaßen okay (nach Stunde zwei ist "einigermaßen okay" das, was "absolut inakzeptabel" zwei Stunden vorher gewesen wäre) angezeigt wird.



Ich werde es vermissen, dass mich jemand erbost aus der Redaktion anruft um zu sagen, dass mein Teasertext durch einen Tippfehler kompletter Bockmist ist. Ich werde es vermissen, dass die Leute mich beschämt grüßen, wenn sie auf die Toilette gehen und ich aufgrund meiner ungünstigen Schreibtischlage zufällig gerade in ihre Richtung schaue. Ich werde es vermissen, dass die Postfrau versucht, ganz unauffällig die Post mitzunehmen um niemanden zu stören und dabei doch wieder irgendetwas umrennt.


Ich werde es vermissen, dass die Frau in der Kantine genau weiß, dass ich meinen Latte Macciato mit Caramel-Sirup und Schokoflökchen oben drauf trinke. Ich werde es vermissen, dass meine Kollegen meine wertvolle Arbeitskraft mit sinnlosen Aufgaben vergeuden ("Kannst du bitte mal im Test-Shop von XY so oft die Suchanfrage "René-Sexpuppe" eingeben, bis sie auf Nummer 1 ist? Wir wollen einen Screenshot davon machen"). Ich werde es vermissen, dass irgendjemand anruft um uns mitzuteilen, dass die Shops down sind und wir alle wie die Dodos bei Ice  Age wirr und wild durcheinander laufen, um die Shops wieder ans laufen zu kriegen.


Ich werde es vermissen, dass mein Rechner immer dann mit gefrorenem Bildschirm abschmiert, wenn ich mich garantiert gerade wieder auf einer Seite befinde, die nichts mit Arbeit zu tun hat. Ich werde es vermissen, dass alle gebannt zuhören, wenn ich die neusten News vom Gala-Newsticker quer durchs Büro brülle ohne Rücksicht auf die Menschen zu nehmen, die sich gerade in Gesprächen befinden. Ich werde es vermissen, dass meine Kollegin und ich komplette professionelle Gespräche in der Sprache des Asi-TV halten können ("Ähhh Jungäää, kannst du die Proofs voll korrekt krass mal an die Litho schicköööön?" - "Äääh, fuck misch nisch von der Saide an, Alda! Aba mach isch" - "Aba schick das nich an den mit den roten Haaren - den hasse isch voll!").


Ich werde es vermissen, dass wir in schlechten Zeiten immer gerne darüber phantasieren, was als Alternativjob alles infrage käme (Groschenromanautorin, Hulatänzerin auf Hawaii, Schokoladentesterin etc. pp.). Ich werde es vermissen, dass die Praktikantinnen und ich uns immer unverschämt großzügig am Salatbuffet in der Kantine bedienen und wir und dafür einsetzen wollen, dass "Salatstapeln" als offizielle Sportart anerkannt wird. Ich werde es vermissen, dass meine Gespräche mit der IT am Telefon immer so verlaufen, dass ich am Ende noch mehr Fragen habe als vorher und die wahrscheinlich das hier machen, wenn die meine Nummer auf ihrem Display sehen. 


Ich werde es vermissen, jeden Tag ein bisschen mehr über die Welt des Internets und die Ewigen Weiten der Tastatur-Shortcuts zu lernen und ich mich wie ein kleines Kind unendlich darüber freue ("Woah! Leute! habt ihr gewusst, dass man die Seite viel einfacher neu laden kann, indem man F5 drückt? Was für eine krasse Scheiße!"). Ich werde es vermissen, meine vegetarische Kollegin mit dem Geruch meines Mettbrötchens am Morgen in den totalen Wahnsinn zu treiben.  Ich werde es vermissen, dass mein Mitbewohner die Krise kriegt, weil ich unser Altpapier schon wieder mit unzähligen Belegexemplaren vollgespamt habe.


Ich werde es vermissen, unzählige Gespräche mit dem Kundenservice zu führen, die immer so ausgehen, dass beide Seiten unzufrieden sind und wir eine Lose-Lose-Situation geschaffen haben (aber wenigstens ist das fair). Ich werde es vermissen, dass irgendeiner meiner Kollegen immer eine Tafel Schokolade hervorzaubert, wenn man sie gerade braucht. Ich werde es vermissen, dass ich in der Kantine stehe und das Outfit der neben mir stehenden vermutlichen Moderedakteurin einer Frauenzeitschrift die totale Hirnkirmes bei mir auslöst.


Ich werde es vermissen, dass ich eine Mail mit der Bitte um Erledigung einer Aufgabe losschicke und die gleiche Mail drei Tage später nach etlichen Besuchen in den Posteingängen anderer Mitarbeiter bei mir landet mit Bitte um Erledigung. Ich werde es vermissen, dass meine Telefon klingelt, ich die Nummer sehe und denke "Oh oh ... das gibt Ärger!". Ich werde es vermissen, dass A. mich nicht mehr erbost anruft, weil mir  mal wieder eine Testbestellung durchgegangen und sie jetzt glückliche Besitzerin eines Geschenkabos für das Magazin für reife Frauen ab vierzig ist.

Ach, ich werde noch so viel mehr vermissen, das ich hier gar nicht alles aufzählen kann. Ich möchte nur abschließend sagen, dass ich eine echt tolle Zeit mit euch hatte und ihr mir echt fehlen werdet.

Haltet die Ohren steif und bitte behandelt die neue Praktikantin bitte genauso gut wie mich - dann wird alles gut. 

Es grüßt euch herzlichst ein letztes Mal


Over And Out :)


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